Darf in wissenschaftlichen Arbeiten die Ich-Form verwendet werden?
In dieser Diskussion werden zwei Positionen erkennbar:
Anhänger der ersten Position argumentieren gegen das Auftreten von ‚Ich‘ in wissenschaftlichen Texten und plädieren für einen von Unpersönlichkeit geprägten Schreibstil.
Die Befürworter der zweiten Position legen ihre Argumente für den Ich-Gebrauch dar. Zwischen den Polen dieser zwei entgegengesetzten Positionen gibt es mehrere Möglichkeiten, beide Verfahrensweisen zu kombinieren und je nach Kontext einzusetzen.…
Substituierende Formulierungsmöglichkeiten
Um das Autoren-Ich zu vermeiden, können substituierende Formulierungsmöglichkeiten verwendet werden. Als alternative Formulierungen für das ‚Ich‘ dienen:
- Passivkonstruktionen, z. B. ‚An dieser Stelle wird die Analyse abgeschlossen‘ (Auer/Baßler 2007, S. 18), (Niederhauser 2011, S. 43);
- Formulierungen, bei denen auf eigene Veröffentlichungen Bezug genommen wird, wie etwa ‚Schon in XY (2011) wurde gezeigt …‘ (Niederhauser 2011, S. 43);
- Formulierungen, bei denen von sich aus der Perspektive „der dritten Person“ geschrieben wird, wie etwa ‚Der Verfasser vertritt die Theorie…‘ (Auer/Baßler 2007, S. 17-18), (Niederhauser 2011, S. 43);
- Verwendung von „wir“ zwecks der Einbeziehung der Adressaten, z. B. ‚Im Folgenden wollen wir Strategien und Techniken herausarbeiten‘ (Auer/Baßler 2007, S. 17);
- Attribuierung eines „Handlungscharakter[s]“ dem Beitrag, dem Artikel etc., z. B. ‚Der vorliegende Artikel widmet sich …‘ oder ‚Die vorliegende Arbeit befasst sich mit …‘ (Auer/Baßler 2007, S. 18).
[Hervorhebungen im Original wurden weggelassen, Hervorhebungen durch die Verf.]
Die vollständige Vermeidung des autorenbezogenen ‚Ich‘ und die oben beschriebenen Verbote werden jedoch nicht in allen wissenschaftlichen Texten und nicht von allen Autoren eingehalten. Beneš (1981, S. 187) bemerkt dabei, dass besonders in geisteswissenschaftlichen Texten die „individuellspezifische Note“ des Verfassers immer wieder zum Ausdruck kommt. Dabei wird eine persönlichere Darstellungsweise bzw. das Autoren-Ich verwendet. Andermann, Drees und Grätz (2006, S. 90) argumentieren gegen „das Verstecken der eigenen Haltung hinter der dritten Person“ und empfehlen stattdessen „objektsprachliche Formulierungen“ wie z. B. „hierzu ist festzustellen“, „dem wäre noch hinzuzufügen“, „mit Nachdruck muss der Auffassung widersprochen werden“ etc. zu benutzen.
In bestimmten Kontextsituationen der wissenschaftlichen Texte erscheint die Verwendung des Autoren-Ich sinnvoll, je nachdem, um welche Textsorte oder welchen Textteil es sich handelt. Steinhoff (2007, S. 11-23) spricht von drei diversen „Ich-Typen“, nämlich dem „Verfasser-Ich“, dem „Forscher-Ich“ und dem „Erzähler-Ich“, die jeweils in unterschiedlichen Kontexten verwendet werden. Angemessen kann der Ich-Gebrauch z. B. in Einleitungskapiteln oder in Fällen sein, wo eine Umformulierung zu steif und unnatürlich wirken wird (Niederhauser 2011, S. 43). Außerdem kann das Autoren-Ich bei der Darstellung einer von der Verfasserin oder dem Verfasser selbst „durchgeführte[n] Untersuchung, Befragung oder ein[es] Experiment[s]“ eingesetzt werden (Graefen/Moll 2011, S. 100).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die Tendenz, das Autoren-Ich in wissenschaftlichen Texten zu verwenden, fortsetzt. In letzter Zeit gewinnt das „Autoren-Ich“ wieder an Bedeutung, was möglicherweise von der „mündlichen Fachkommunikation“ und dem „Aufbrechen[…] der fachlichen Abgeschlossenheit“ beeinflusst wird (Hoffmann 1998, S. 422). Somit wird der Stil der Wissenschaft tendenziell „persönlicher“ (Auer/Baßler 2007, S. 18).
Die Verwendung oder Vermeidung des Autoren-Ich hängt inzwischen auch ab von den individuellen Vorlieben der Verfasserinnen und Verfasser, von der persönlichen Identifizierung mit den Tendenzen der Wissenschaftssprache in einem bestimmten Land oder Kulturraum bzw. in einer bestimmten Wissenschaftskultur, von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten scientific community und den in diesem Wissenschaftskreis üblichen Verfahren zum Gebrauch des Autoren-Ich.
Quellen:…
Andermann, Ulrich; Drees, Martin;Grätz, Frank (2006): Duden. Wie verfasst man wissenschaftliche Arbeiten? Ein Leitfaden für das Studium und die Promotion. 3., völlig neu erarb. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut.
Auer, Peter ; Baßler, Harald (2007): Der Stil der Wissenschaft. Reden und Schreiben in der Wissenschaft. In: Auer, Peter ; Baßler, Harald (Hrsg.) (2007): Reden und Schreiben in der Wissenschaft. Frankfurt a. M.: Campus, S. 9-29.
Beneš, Eduard (1981): Die formale Struktur der wissenschaftlichen Fachsprachen in syntaktischer Hinsicht. In: Bungarten, Theo (Hrsg.) (1981): Wissenschaftssprache. Beiträge zur Methodologie, theoretischen Fundierung und Deskription. München: Wilhelm Fink Verl., S. 185-212.
Graefen, Gabriele; Moll, Melanie (2011): Wissenschaftssprache Deutsch: lesen – verstehen – schreiben. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Frankfurt am Main [u.a.]: Peter Lang.
Hoffmann, Lothar (1998): Syntaktische und morphologische Eigenschaften von Fachsprachen. In: Hoffmann, Lothar; Kalverkämper, Hartwig; Wiegand, Herbert Ernst (Hrsg.) (1998): Fachsprachen – Languages for Special Purposes. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. Berlin [u.a.]: de Gruyter, Bd. Halbbd. 1. (HSK 14.1), S. 416-427.
Niederhauser, Jürg (2011): Duden Praxis kompakt. Die schriftliche Arbeit. Mannheim: Bibliographisches Institut.
Steinhof, Torsten (2007): Zum ich-Gebrauch in Wissenschsftstexten. Zeitschrift für germanistische Linguistik, 35, S. 1-26.
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